Attraktor

Allgemein bezeichnet dieser Begriff einen für ein System "attraktiven" dynamischen Zustand, im Sinne eines über die Zeit relativ stabilen Verhaltensmusters. Stabile Verhaltensmuster können Ruhezustande, mehr oder minder komplexe periodische Verhaltensweisen, Frequenzüberlagerungen im Sinne eines Torus oder deterministisch-chaotische Dynamiken sein. Die vier Attraktortypen werden Fixpunkt, Grenzzyklus, Torus und chaotischer Attraktor genannt.

Ein Pendel beispielsweise kann zwei solcher stabilen Zustände einnehmen. Bei konstanter Energiezufuhr, wie z. B. in einer Pendeluhr, zeigt sich ein periodisches Verhalten. Fehlt die ständige Energiezufuhr, so kommt es durch Reibung am tiefsten Punkt zum Stillstand, dem so genannten Ruhepunkt.

Im Falle eines Gliederpendels, bei dem eine Koppelung zweier oder mehrerer Pendelarme vorliegt, kann sich die sonst gleichmäßig sinusförmige Bewegung in eine nicht mehr vorhersehbare flatterhafte Bewegung verwandeln, die deterministisch chaotische Zustände erreichen kann. Die Stärke der zugeführten Energie bestimmt hierbei, welche Verhaltensmuster vom Pendel produziert werden. Die beschriebenen Verhaltensmuster sind bei gleichbleibenden energetischen Bedingungen über die Zeit stabil.

Es ist dabei notwendig, zwei Fälle zu unterscheiden: (a) Ein System kann bei unveränderten Umweltbedingungen (technisch: Kontrollparameter) mehrere potentielle Attraktoren aufweisen (vorstellbar als mehrere nebeneinander existierende Potentialtäler in einer Potentiallandschaft). Der Übergang zwischen den Attraktoren erfordert lediglich eine hinreichende Auslenkung aus dem Bassin des aktuell realisierten Attraktors. (b) Ein System verfügt bei gegebenen Umweltbedingungen nur über einen Attraktor. Der Wechsel von Attraktoren ist hier zwingend an Umweltveränderungen gebunden (anschaulich: durch Veränderung der Kontrollpaxameter erzielte Umformung der Potentiallandschaft).

Ein Pendel besitzt, ohne konstante Energiezufuhr, nur einen stabilen Attraktor, nämlich den Ruhepunkt. Auslenkungcn, egal wie stark und in welche Richtung, führen immer in diesen Attraktor zurück. Dagegen hat ein Lichtschalter schon zwei Attraktoren. Je nach Stärke der Auslenkung aus dem Ruhepunkt wird er in diesem verbleiben oder in den anderen stabilen Zustand hinüberkippen.

Ob es sich bei einem stabilen Muster um einen "attraktiven" Zustand handelt, prüft man, indem man beobachtet, ob das System nach einer künstlichen Störung seines Verhaltens bestrebt ist, wieder in diesen Zustand zurückzukehren. Ein Pendel ohne ständige Energiezufuhr ist bestrebt, immer wieder in die Ruhelage zurückzukehren, egal wie groß die Auslenkung war. Analoges läßt sich auch für die anderen beschriebenen Zustände des Pendels finden. Für die Psychologie sind ähnliche Konzepte beschrieben worden, wie zum Beispiel das des Wiederholungszwanges oder das der Assimilation unterschiedlicher Wahrnehmungen an bestehende kognitiv-emotionale Schemata.
Je nach System kann es mehr oder weniger lange dauern, bis das das Systemverhaltcn nach einer Auslenkung in den Attraktor zurückkehrt. Dabei kann es ein für den Attraktor unübliches Systemverhalten zeigen, sich z.B. oszillierend dem Fixpunkt annähern. Der Weg in einen Attraktor wird als Transiente bezeichnet. Ein anderes Beispiel für transientes Systemverhalten sind die ästhetisch ansprechenden Muster, die entstehen, wenn man Sahne in schwarzen Kaffee schüttet. Es handelt sich hierbei um eine Transiente, auf dem Weg in einen Attraktor, der sich als gleichmäßig brauner Milchkaffee präsentiert.
Bei der Beobachtung von Systemen ist darauf zu achten, ob das beobachtete Systemverhalten einer Transiente oder einem Attraktor entspricht. Der Beobachtungszeitraum muß groß gegenüber der "Systemzeit" sein. Beobachtet man z.B. Planetenbewegungen oder Prozesse der Evolution von Leben, so sind diese Einschränkungen zu beachten, da der Beobachtungszeitraum gegenüber der "Systemzeit" relativ klein ist.
Ähnliche Probleme ergeben sich, wenn man sich vor Augen führt, daß die zeitlich "vollständige" Beobachtung eines Attraktors, je nach Komplexität des Systemverhaltens unterschiedlich lange Zeitepochen in Anspruch nehmen kann. Sprunghafte Veränderungen im Verhalten eines Systems können den Wechsel in einen anderen Attraktor markieren (sog. Phasenübergänge), können aber auch genuin zur Dynamik eines Attraktors gehören. Um hier eine Entscheidung treffen zu können, muß man langfristig beobachten, ob sich die Verhaltensänderungen, bei konstanten Umweltbedingungen (relevanten Kontrollparametern) mehr oder weniger regelmäßig wieder holen.

(Schiepek und Strunk 1994, S.105ff.)